- Chassidim: Typus biblischer Religiosität
- Chassidim: Typus biblischer ReligiositätDer Chassidismus ist nicht nur eine pietistische Bewegung des 18. Jahrhunderts im osteuropäischen Judentum, der Chassid (Fromme) ist vielmehr ein allgemeiner Typus der biblischen Religiosität, der zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten immer wieder in Erscheinung tritt. Das Adjektiv »Chassid« entspricht dem Substantiv »Chessed«, das in der Bibel »Güte«, »Gnade« oder»Gunst« bedeutet. Die Wortwurzel bedeutet aber auch »Schande«. Als Chassid bezeichnet man denjenigen, der »Chessed« übt, das heißt mehr leistet, als von ihm erwartet wird, und sich durch Großzügigkeit und Hingabe auszeichnet. In den Psalmen wird Gott selbst »Chassid« genannt, und die Chassidim, die ihm rückhaltlos dienen, sind seine Lieblinge. Es ist kein Zufall, dass später gerade der Psalter, dessen Autor sich ebenfalls als »Chassid« bezeichnet, zum Lieblingsbuch der Chassidim wurde. Als Gruppe begegnen die Chassidim erstmals in den Makkabäerbüchern und zeichnen sich hier durch radikalen Gesetzesgehorsam und Bereitschaft zum Martyrium aus.In der rabbinischen Literatur ist von den »früheren Frommen« die Rede, die insbesondere im klassischen Gebiet der Frömmigkeit, im Gebet, durch religiöse Sonderleistungen auffallen: Dem Gebet der Chassidim werden Wunderkräfte zugeschrieben, was der Talmud mit einer für die gesamte magische Richtung der jüdischen Mystik zukunftweisenden Formel ausdrückt. »Du (nämlich der Chassid) hast hienieden verfügt, und der Heilige, gesegnet sei er (Gott), hat es oben erfüllt.« Die Chassidim gelten als Wunder- und Medizinmänner und sind Gegenstand zahlreicher populärer Erzählungen; so etwa die Geschichten des Regenmachers Choni Hamagel und des Gesundbeters Rabbi Chanina ben Dossa im ersten Jahrhundert - eines jüngeren Zeitgenossen und religiösen Artgenossen Jesu. Die Chassidim waren durchaus auch gelehrt, sie lehnten aber die Gelehrsamkeit als Selbstzweck ab und betonten die religiösen Werte wie absolutes Gottvertrauen, Sündenscheu und Demut. Der Chassid tut dabei nicht weniger oder anderes, sondern mehr als das Gesetz und die Moral verlangen und handelt folglich, wie es heißt: »innerhalb der Linie des Gesetzes«. Diese besonderen Forderungen entsprechen im Vergleich zur gewöhnlichen Norm, die in der Mischna kodifiziert ist, der »Mischnat haChassidim«. Die Erschwerungen, die sich der Chassid auferlegt, machen ihn bei seinen Zeitgenossen und den Hütern der Norm, den Gelehrten, nicht unbedingt beliebt. Der Typus des Chassid galt denn auch in der halachischen und moralischen Literatur als Ausnahme. Die Sittenlehre der »Mischne Thora« von Maimonides erhebt wie Aristoteles das Mittelmaß zum Ideal und bestimmt die ethische Tugend als mittleren Weg zwischen den Extremen. Der Mittelmäßige ist nach Maimonides der Weise (Chacham); wer sich dagegen vom mittleren Weg entfernt und sich ein Übermaß an Frömmigkeit abfordert, wird »Frommer« genannt.Der Chassidismus begegnet später auch als religiöses Ideal im Deutschland des 12. und 13. Jahrhunderts, vor allem im Rheinland, als dort unter anderem auch die christlichen Mystik blühte. Die religiösen Normen und die Spiritualität der deutschen Chassidim (Chasside Aschkenas) haben ihren Niederschlag im volkstümlichen »Buch der Frommen« (Sefer Chassidim) gefunden, einer Sammlung aus etwa 2000 Verhaltensregeln, Geschichten, Wundererzählungen, Auslegungen und Predigten in bunter Mischung. In dem Bild, das das »Buch der Frommen« vom Chassid zeichnet, finden wir alle biblischen und rabbinischen Züge des Typus wieder: skrupulöse Gebotserfüllung und Sonderleistungen, athletische Askese und Märtyrertum, Gebetsmeditation und Theurgie, der Versuch einer Beeinflussung Gottes durch menschliches Tun. Das penible Sündenbewusstsein und die exzessiven Bußtarife sind offensichtlich von zeitgenössischen christlichen Praktiken beeinflusst. Im »Buch der Frommen« wird etwa die Kasteiung eines Chassid, der sich im Sommer zwischen die Flöhe legte und im Winter seine Schuhe mit Wasser füllte, als höchst verdienstlich veranschlagt. Die Historiker sind sich daüber einig, dass die Chassidim in diesem Punkt mit christlichen Asketen wetteiferten. Auch der ungewöhnlich starke Aberglauben im »Buch der Frommen« entsprach dem der nicht-jüdischen Umwelt. Neben den spektakulären esoterischen Praktiken war die Frömmigkeit der Chasside Aschkenas ausgesprochen düster. Sie hielten strengste Bußübungen. Der Chassid wird wegen seiner strengen Verhaltensmaßstäbe und seiner Abwendung von bürgerlicher Lebensart von seiner Umgebung, die in religiösen Dingen nichts weniger als lax war und die sich offenbar durch seinen Übereifer überfordert fühlte, verspottet; seine Frömmigkeit bestätigt sich darin, dass er dieses Los als Buße schweigend erträgt. Der Chassid hat sich in seiner Umwelt in fortwährender Anfechtung zu bewähren. Den Vers aus dem Psalm 44, 22: »Denn wir werden ja um deinetwillen täglich erwürgt und sind geachtet wie Schlachtschafe« deutet das Sefer Chassidim auf die Scham der Chassidim, die wegen der Gebote Schande, Schmach und Erniedrigung ertragen. Die chassidische Religiosität ist Märtyrerreligiosität, und die zeitgenössischen jüdischen Märtyrer der Kreuzzüge werden in den hebräischen. Chroniken umgekehrt auch als Chassidim bezeichnet.Die chassidische Bewegung, die im 18. Jahrhundert in Polen in Erscheinung trat und bis heute fortlebt, unterscheidet sich von allen früheren Spielarten des Chassidismus durch ihren populären Charakter. Der polnische Chassidismus war in dieser Hinsicht sogar das gerade Gegenteil zum landläufigen Chassidismus individualistischer und elitärer Asketen. War bisher die Einstellung der Chassidim zur Gesellschaft durch Rückzug, Einsamkeit und Gleichgültigkeit geprägt, so predigte der polnische Chassidismus Verantwortung für die Gemeinschaft Israels und Engagement für die sozial und religiös Schwachen; dominierten bisher introvertiertes Schuldbewusstsein und Gefühle des Versagens in der Stimmung der Chassidim, so bekämpfte der polnische Chassidismus die Melancholie mit extrovertierter, ekstatischer Begeisterung. Das neochassidische Bild des Chassidismus als einer weltbejahenden Religiosität, wie es etwa Martin Buber bot, ist freilich ein Anachronismus. Die doktrinale Basis für den polnischen Chassidismus ist die Kabbala des Isaak Luria, und es geht letztlich auch ihm um die Erlösung des göttlichen Lichts aus den weltlichen Schalen. Aber daraus ergibt sich zunächst einmal die Konsequenz, dass Gott in allem - auch im Bösen - harrt. Werke der Erlösung müssen überall und jederzeit, auch in den alltäglichsten Verrichtungen wie Essen und Rauchen, vollbracht werden. Dazu sind aber nicht, wie in der lurianischen Kabbala, eine komplizierte Gnosis über die Herkunft der göttlichen Funken und spezielle Meditationstechniken zu ihrer Rückführung nötig; der polnische Chassidismus empfahl bloß eine immer währende Ausrichtung auf und Vereinigung mit Gott und eine ansteckende Begeisterung, die aus den inneren und äußeren Verschalungen die göttlichen Funken schlägt. Wenn von dem »populären Charakter« des polnischen Chassidismus die Rede ist, dann heißt das allerdings nicht, dass diese Erlösungsarbeit jedermann zugetraut wird; sie bleibt vielmehr die Aufgabe religiöser Spezialisten, der Gerechten, der Zadikim, die sie für die gewöhnlichen Chassidim und das Volk übernehmen.Dr. Daniel KrochmalnikMaier, Johann: Geschichte der jüdischen Religion. Von der Zeit Alexanders des Großen bis zur Aufklärung mit einem Ausblick auf das 19./20. Jahrhundert. Neuausgabe Freiburg im Breisgau u. a. 21992.
Universal-Lexikon. 2012.